Orte nationalsozialistischer Gewalt – Kritischer Stadtrundgang Freitag 3. 11. 2023, 16 Uhr

Im Rahmen der kritischen Erstsemester-Wochen  treffen wir uns um 16 Uhr im Café Mano Negra, Alte Münze 12 (Durchgang AStA-Gebäude)

Ausgehend vom Osnabrücker Schloss, einem zentralen Gebäude der Uni, stellen wir wesentliche Orte der NS-Stadtgeschichte in einem Rundgang vor. Die Untersuchungen zur Zeit des Nationalsozialismus und seinen Folgen in Osnabrück stecken in den Anfängen oder konzentrieren sich auf zweifelhafte Repräsentanten, wie die Diskussion um das Wirken des vielbeschworenen ‚Retters‘ Hans Calmeyer gezeigt hat.

 

Nazi-Kundgebung Osnabrück Ledenhof

Nazi-Kundgebung Osnabrück Ledenhof

Wir versuchen, an historischen Stätten einen kritischen Einblick in die allgegenwärtige Verfolgung, Drangsalierung, Erfassung und „Arisierung“, Vertreibung und Vernichtung wie auch auf die Täterinnen und Täter zu geben sowie auf Kontinuitäten hinzuweisen.

Erklärung der Geschichtswerkstatt regionale Täterforschung Osnabrück zur Vertreibung des Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager (DIZ) aus der Gedenkstätte Esterwegen vom 19. Juni 2023

Gegen die Kündigung – für den Erhalt des DIZ Emslandlager

Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass dem DIZ durch die politischen Instanzen des Landkreises Emsland in Person des Landrats und Vorsitzenden der Stiftung Gedenkstätte Esterwegen Marc-André Burgdorf (CDU) das Büro in der Gedenkstätte kurzfristig gekündigt worden ist.

Dieses Vorgehen sehen wir besonders irritiert an, nachdem wir erst vor kurzem bei einem Besuch der Gedenkstätte Esterwegen direkt die Arbeit des DIZ kennen und schätzen gelernt haben. Wir wurden bei unserer Tagesexkursion von dem Guide Frau Mithöfer, die langjährig im Verein des Aktionskomitees für ein DIZ Emslandlager e. V. aktiv ist, empfangen. Es schloss sich ein ausführlicher und engagierter Vortrag über das System der Emslandlager und die Präsentation Auf den Spuren der Moorsoldaten an. Detailliert wurden die im Emsland verteilten Strafgefangenen- und Kriegsgefangenenlager, ihre geplante Einrichtung und Verwaltung, die wechselvolle Belegungsgeschichte, Biografien, Lageralltag und Formen der Selbstbehauptung, die zeitgenössischen Reaktionen aus der Bevölkerung und des Auslandes wie auch die wirtschaftliche Bedeutung der Zwangsarbeit vorgestellt. Weiterhin wurden die Nachkriegsgeschichte, die Umwidmung mit verschiedenen Funktionen des ehemaligen Lagers und das ‚Verschwinden‘ der Lagerfriedhöfe thematisiert.
Es schloss sich eine rege Diskussion mit Nachfragen auch über die Entstehung und Arbeit der Initiative des DIZ, die Möglichkeiten der Archivarbeit vor Ort und ein Erfahrungsaustausch an. Nach einer kurzen Pause wurden wir bei einem Rundgang über das Außengelände geführt. Hier standen die Architektur und Details des Lageraufbaus im Fokus. Abschließend konnten wir die verschiedenen Abteilungen der Dauerausstellung der Gedenkstätte und den Büchertisch erkunden.

Der Besuch hat uns eindringlich die Dimension des regionalen Terrors vor der Haustür unter örtlicher Osnabrücker Beteiligung von Behörden und NS-Tätern vor Augen geführt. Zu Bemängeln ist ausdrücklich die schlechte Anbindung der Gedenkstätte an den öffentlichen Nahverkehr. Hierdurch ist die Erreichbarkeit wesentlich eingeschränkt und mit hohen Kosten verbunden, was für einen Besuch abschreckend wirkt.
Aus unseren Erfahrungen in der Gedenkstätte bleibt es mehr als unverständlich, dass nun diese wertvolle Bildungs- und Vermittlungsarbeit durch die Entziehung ihrer Arbeitsmittel behindert wird. Die Arbeit des DIZ dient dem Begreifen der frühen Konzentrationslager als eines der zentralen Terrorinstrumente des Nazi-Systems, ihrer Rolle als eliminatorische Kriegsgefangenenlager und innerhalb der NS-Kriegswirtschaft.
Besonders die nun erschwerte Nutzung des umfangreichen Archivs, in dem sich zahlreiche Zeugnisse der Häftlinge und eine umfangreiche Bibliothek befinden, die durch die reiche Erfahrung und Arbeit der DIZ-Mitarbeiter:innen nutzbar gemacht wurde, beschädigt ein mehr als 40jähriges demokratisch-antifaschistisches Engagement. Es führt zurück in die Anfänge des DIZ, das sich seit seinem Entstehen und seiner Gründung 1985 zuerst mit dem anti-kommunistischen Ressentiment, der konservativ politisch-bürokratischen wie auch der wissenschaftlichen Ignoranz und schließlich der offensiven staatlich-institutionellen Gedenkvereinnahmung durch eine gelenkte Musealisierung erwehren musste und wieder muss. Dies ist umso desaströser, da Rassismus und Antisemitismus von Parteien verbreitet und von der Bevölkerung begierig aufgegriffen werden, um sich auch gewalttätig zu äußern. In dieser Konstellation scheinen der Landkreis Emsland und seine Entscheidungsträger:innen ihre Chance zu sehen, sich die Früchte einer Arbeit einzuverleiben, deren Produzent:innen sie nun los werden wollen.

Wir fordern die Bereitstellung aller notwendigen Mittel für die Förderung und Unabhängigkeit der Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit des DIZ.
Besucht die Gedenkstätte Esterwegen! Unterstützt das DIZ! Teilt seinen Unterstützungsaufruf!

90. Jahrestag der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933

Zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 haben wir damit begonnen eine temporäre und mobile Wandzeitung zusammenzustellen. Die Beiträge sind im Durchgang an der Alten Münze 12 an der Außenfassade des Café Mano Negra, geöffnet Freitags ab 15 Uhr, gegenüber des AStA-Eingangs plakatiert.

Anhand von Texten, Dokumenten und Bildern werden die Etappen der Verfolgung von jüdischen, kommunistischen und sozialistischen, pazifistischen und liberalen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie auch Künstlerinnen und Künstlern vorgestellt. Sie begann nicht erst mit der Machtübergabe an die Nazis am 30. Januar 1933 und fand ihre weitere Verschärfung, etwa die Organisierung der Bücherverbrennungen, die die Deutsche Studierendenschaft am 10. Mai 1933 durchführte. Vorausgegangen waren aber auch die Reichstagsbrandstiftung am 28. Februar1933, ein Fanal des Terrors gegen Antifaschistinnen und Antifaschisten, der Boykott gegen die jüdische Bevölkerung am 1. April 1933, ein Auftakt für die folgenden Pogrome und die Auflösung und Ausraubung der Gewerkschaften.

Der erste Teil der Wandzeitung beleuchtet Planung und Ablauf der „Aktion wider den undeutschen Geist “, wie die Deutsche Studentenschaft ihre Massenaktion nannte. Versammelt werden Stimmen von antifaschistischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die etwa in Berlin die Propagandaaktion beobachteten. Es schließt sich die Verschärfung des Nazi-Terrors an deutschen Hochschulen und die damit verbundene antisemitische und rassistisch-völkische Kontinuität wie auch die Kriegsmobilisierung an deutschen Universitäten an. Bereits in der Weimarer Republik fanden immer wieder Angriffe gegen Intellektuelle statt, etwa den Statistik-Professor Emil J. Gumbel oder den Hannoveraner Philosophen Theodor Lessing, der im Exil von Nazis ermordet wurde.

Weitere Stationen der Wandzeitung sind die NS-Schrifttumspolitik mit der Kontrolle und Lenkung des NS-Buchmarkte s und seiner Institutionen, Gegenaktivitäten wie etwa die Geschichte der Büchergilde Gutenberg sowie aktuelle internationale Beispiele von Bücherzensur und -verbot. Die Frage der aktuellen Erinnerung an das „Todesurteil“ gegen die deutsche Literatur und ihre Produzent:innen, wie es der exilierte Schriftsteller Alfred Kantorowicz kurz nach der Befreiung in der frühen Dokumentation verboten und verbannt 1947 nannte, schließt sich an.

Wir verstehen die Wandzeitung als einen Beitrag zu einer Aktualisierung der Nazi-Geschichte mit ihren vielfältigen konservativ-nationalistischen Vorläufen und bis in die Gegenwart reichenden Kontinuitäten.

Das Vergessen der Austreibung und Ermordung von verfolgten Schriftstellerinnen und Schriftstellern zeigt sich auch am lokalen Beispiel. Die Stadt Osnabrück bezeichnet auf der Homepage die NS-Zeit der Stadtbücherei pauschal als „kulturelle[n] Kahlschlag“ und verweist sodann auf „die nahezu totale Zerstörung“ der Bücherei. Hiermit sind wohl die alliierten Luftangriffe gemeint, die eine der militärischen Voraussetzungen waren, Nazi-Deutschland besiegen zu können. Besonders die öffentlichen Büchereien beteiligten sich aktiv an den Bereinigungen und Aussonderungen des Buchbestands. Aber auch das Verhalten und die Reaktionen der Büchereileitungen und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bleibt für die späten Nachfahren und Besucher*innen im Dunkeln.

Die folgenden Teile der Wandzeitung beschäftigen sich mit den inhaftierten und teilweise später exilierten Schriftstellern in den emsländischen Konzentrationslagern, den mit

Osnabrück und seinem Umland verbundenen geflüchteten Autor:innen und stellen schließlich Querköpfe des vielstimmigen Exilkosmos vor.

Kritik wie auch weitere Beitragsvorschläge, Ergänzungen und Kommentare bitte per Mail an: geschichtswerkstattos@riseup.net

Tagesexkursion zur Gedenkstätte Esterwegen in der Nähe von Papenburg im Emsland am 22.04.2023

Die Geschichtswerkstatt Regionale Täterforschung, das Referat für Politische Bildung und Antifaschismus des AStA der Universität Osnabrück und das Café Mano Negra laden ein zur Tagesexkursion in die Gedenkstätte Esterwegen.

Wir wollen uns vor Ort über eine Führung und vertiefende Diskussionen sowie optionale Workshops kritisch mit der Geschichte der nationalsozialistischen Lager und Lagerfriedhöfe im Emsland auseinandersetzen. Gleichzeitig möchten wir einen Blick hinter die Kulissen regionaler erinnerungspolitischer Vorgänge seit der Nachkriegszeit werfen und damit die umkämpfte Geschichte der heute als oft selbstverständlich angesehenen deutschen Erinnerungslandschaft zur NS-Zeit historisieren.

Die Kosten für die Veranstaltung werden vom AStA der Universität Osnabrück übernommen. Wir reisen gemeinsam mit einem gemieteten Bus an. Die Gedenkstätte liegt recht abgelegen, vor Ort besteht keine Möglichkeit der Verpflegung für die Mittagspause. Bitte bringt also individuell oder in gemeinsamer Absprache Verpflegung mit.

Die gemeinsame Abfahrt mit einem gemieteten Bus ist für 9:00 Uhr vor dem EW-Gebäude der Universität (Seminarstraße 20) geplant. Die Rückkehr aus Esterwegen erfolgt gegen 17:00 Uhr.

Für die Anmeldung schreibt uns bitte eine eMail an geschichtswerkstatt@riseup.net. Da die Plätze begrenzt sind, verstehen wir die Anmeldung als verpflichtend. Da wir uns über zahlreiche Rückmeldungen freuen, richten wir dennoch eine Warteliste für potenziell Nachrückende ein.

Wir freuen uns auf euer Interesse!

Orte nationalsozialistischer Gewalt – Kritischer Stadtrundgang, Freitag, 04.11.2022, 16:00 Uhr

Orte nationalsozialistischer Gewalt – Kritischer Stadtrundgang

Ausgehend vom Osnabrücker Schloß – einem zentralen Gebäude der Uni – stellen wir wesentliche Orte der NS-Stadtgeschichte in einem Rundgang vor. Bisher stecken die Untersuchungen zur Zeit des Nationalsozialismus und seinen Folgen in Osnabrück in den Anfängen oder sie konzentrieren sich auf zweifelhafte Repräsentanten, wie die Diskussion um das Wirken von Hans Calmeyer gezeigt hat.

Nazi-Kundgebung aus dem Ledenhof, Osnabrück

Wir versuchen dagegen an historischen Stätten einen kritischen Überblick über die allgegenwärtige Verfolgung, Drangsalierung, Erfassung und Arisierung, Vertreibung und Vernichtung, wie auch auf die Täter*innen zu geben und auf die vielfältigen Kontinuitäten hinzuweisen.

Der Rundgang findet am Fr. 04.11.2022 zwischen 16:00 bis ca.18:00 Uhr statt.
Treffpunkt: Café Mano Negra, Alte Münze 12, gegenüber dem AStA

Organisiert vom Café Mano Negra & der Geschichtswerkstatt regionale Täterforschung Osnabrück im Rahmen der Kritischen Erstiwochen 2022 der Linken Hochschulgruppe die Kleinen Strolche

Heinrich Bogula (1903–1976) – Antifaschist und Spanienkämpfer

Emil Heinrich Bogula wird am 23. August 1903 in Osnabrück als Sohn des Stuckateurs Heinrich Bogula geboren. Bei seiner Geburt wohnen die Eltern in der Osningstraße 3, 1905 ziehen sie in die Jahnstraße 13 um.

KPD und Ruhrgebiet

Weitere Spuren der Familie Bogula in Osnabrück konnten bisher nicht recherchiert werden. Heinrich Bogula verschlägt es in den 1920er Jahren in die Ruhrgebietsmetropole und Arbeiter*innenhochburg Dortmund. Er arbeitet als Schlosser und ist zu dieser Zeit politisch sehr aktiv: Gleichzeitig Mitglied der KPD, des Roten Frontkämpferbund (RFB), einer Schutz- und Verteidigungsorganisation der KPD in der Weimarer Republik, sowie der Roten Hilfe. Gewerkschaftlich ist er in der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition (RGO) organisiert, die ein Gegengewicht zu den Freien Gewerkschaften bildet.

Faschismus und Haft

Sein Engagement und seine Parteizugehörigkeit bringen ihn nach der Machtübergabe an den deutschen Faschismus in die Fänge des politischen Gegners. Zwischen April 1933 und November 1934 wird er im Polizeigefängnis Dortmund, der sogenannten Steinwache, inhaftiert, die auch als „Hölle Westdeutschlands“ bekannt wird. Sie gehört zu den berüchtigten frühen Nazi-Folterstätten.

Flucht aus Nazi-Deutschland

Nach seiner zwischenzeitlichen Entlassung flieht Bogula in das Saargebiet, das seit dem Ende des Ersten Weltkrieges unter dem Mandat des Völkerbundes und unter französischer Verwaltung steht. Im Januar 1935 votiert die Bevölkerungsmehrheit in einer Abstimmung für den Anschluß an Nazi-Deutschland. Nun muß Bogula wie viele andere Verfolgte erneut fliehen. Er geht nach Frankreich und wird dort mehrmals inhaftiert, vermutlich weil er illegal ohne Papiere unterwegs ist und als unerwünschter Ausländer gilt.

Spanien – Revolution und Krieg

Von Paris aus scheint Bogula seine Fahrt nach Spanien angetreten zu haben, zunächst mit dem Ziel, an der Arbeiter*innenolympiade in Barcelona teilzunehmen, die für Mitte Juli 1936 als Protest- und Gegenveranstaltung zu den Olympischen Spielen in Nazi-Deutschland geplant ist. Sie wird jedoch kurz nach ihrem Beginn durch den Putsch der Militärs und ihrer Unterstützer*innen am 18. Juli 1936 abgebrochen. Die überwiegend in der Arbeiter*innenbewegung organisierten Teilnehmer*innen schließen sich aus Solidarität der katalanischen Bevölkerung an, die den Putschist*innen bewaffnet entgegen tritt. Die von den putschenden Militärs besetzten Kasernen werden gestürmt, Barrikaden zur Sicherung errichtet. Der Putsch kann dort und in weiteren Regionen nach heftigen Kämpfen zurückgeschlagen werden.

Der Sieg der Republik stellt die seit Längerem ungelöste soziale Frage in Spanien wieder auf die Tagesordnung. Die mehrheitlich in der anarchistisch-syndikalistischen CNT (Confederación Nacional del Trabajo) organisierten Landarbeiter*innen und Proletarier*innen bemächtigen sich der Betriebe und der staatlichen Institutionen. Gleichzeitig behaupten sich die Putschisten in einzelnen Regionen. Sie bedrohen, durch Nazi-Deutschland und das faschistische Italien politisch unterstützt, überdies mit Kriegsmaterial und Truppen verstärkt, die republikanischen Zentren des Landes. Hiergegen bilden die Arbeiter*innenorganisationen antifaschistische Milizen, um den Aufstand zu niederzuschlagen.

Milizen: Kolonne Durruti

Heinrich Bogula schließt sich, trotz seiner kommunistischen Zugehörigkeit, der anarchistischen Kolonne Durruti an, die nach dem Metallarbeiter und Anarchisten Buenaventura Durruti (1896–1936) benannt ist. Sie zieht am 23. Juli 1936 zu der am Ebro gelegenen aragonesischen Stadt Zaragoza, die sich in der Hand der Militärputschisten befindet. Die Kolonne Durruti, der auch eine internationale Gruppe mit deutscher Beteiligung beitritt, kann jedoch trotz verlustreicher Belagerung die strategisch wichtige Stadt nicht einnehmen. Bogula gehört somit zwischenzeitlich zu den rund 250 deutschen Freiwilligen, die auf Seiten der CNT und FAI (Federación Anarquista Ibérica) kämpfen.

Internationale Brigaden

Das von den Gewerkschaften und Parteien im Sommer 1936 aufgebaute Milizsystem wird bald wieder staatlich zentralisiert. Die ausländischen Freiwilligen werden, sofern sie nicht ausdrücklich in einer spanischen Einheit bleiben wollen, in den im Oktober 1936 aufgestellten Internationalen Brigaden zusammengeführt.

Heinrich Bogula ist nun in der ersten Internationalen Brigade organisiert, der 11. Brigade. Er gehört dem Thälmann-Bataillion an, das nach dem in Nazi-Deutschland inhaftierten Vorsitzenden der KPD Ernst Thälmann (1886–1944) benannt ist.

Bogula ist an den Kämpfen um Madrid (Winter 1936) und bei Teruel (Dezember 1937 bis Ende Februar 1938) beteiligt. Zuletzt soll er im Rang eines Oberleutnants gestanden haben und politischer Kommissar einer Kompanie gewesen sein. Bogula bleibt trotz des durch den Druck der faschistischen Interventionsmächte erzwungenen offiziellen Rückzugs der Internationalen Brigaden im Oktober 1938 in Spanien. Bis Mitte März 1939 ist er an der Verteidigung Kataloniens und den damit verbundenen verlustreichen Rückzugskämpfen am Ebro, dem ‚Zweiten Einsatz‘ der Internationalen Brigaden beteiligt. Mehrfach verwundet, verlässt er Spanien als staatenloser Flüchtling.

Flüchtling und Gefangener in Frankreich

Ähnlich wie mehrere Tausend seiner Genossin*innen ist Bogula der Willkür der französischen Armee und Polizei ausgeliefert, die die Flüchtlinge in Südfrankreich in einer „Zone der Ungewißheit“ auf Ödlandflächen konzentriert und inhaftiert. Dort entstehen Lager, die von den Gefangenen unter widrigen Bedingungen selbst errichtet werden müssen, um ihr Überleben organisieren zu können.

Er ist in mehreren dieser Lager gefangen, zuerst nahe der spanisch-französischen Grenze in dem Internierungslager in Argelès-sur-Mer, darauf in dem Sammellager Gurs, einem camp semi-répressifs für zu überwachende Ausländer*innen in Südwest-Frankreich. Dort sind im Juni 1939 über 15.000 gefangene Spanienflüchtlinge und Kämpfer*innen der Internationalen Brigaden interniert, darunter ca. 1.200 Deutsche und Österreicher*innen. Im Sommer 1940 befindet sich Bogula schließlich in Le Vernet, einem südlich von Toulouse gelegenen ‚camp disciplinaire’ der französischen Polizei für in Frankreich „unerwünschte Ausländer. Unter ihnen befindet sich auch der Spanienreporter und Schriftsteller Arthur Koestler. Von dort wird Bogula in das Geheimgefängnis des Vichy-Regimes mit der Tarnbezeichnung Baraque 21 in Castres bei Toulouse verschleppt. Auch hier befinden sich ebenfalls zahlreiche Spanienkämpfer*innen.

Die Unterzeichnung des deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen am 22. Juni 1940 bedeutet für die inhaftierten deutschen Flüchtlinge, daß sie auf Verlangen der deutschen Reichsregierung nach Nazi-Deutschland ausgeliefert werden können (Artikel 19). Der Norden Frankreichs ist von deutschen Truppen besetzt, während die Südhälfte von dem mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regime verwaltet wird. Die Flüchtlingslager sind oftmals das Ziel von Fahndungen und Durchsuchungen durch die Gestapo (Geheime Staatspolizei), die politische Flüchtlinge und Gegner*innen aufzuspüren hofft.

Zwischenzeitlich veröffentlicht der Deutsche Reichsanzeiger am 23. August 1940, daß Heinrich Bogula „der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustigt“ erklärt wird. Die Gestapo fahndet, wie in ihrem Verzeichnis der „flüchtigen Kommunisten und Marxisten“ 1937 und 1938 aufgeführt, nach ihm.

Kommunistische Internationale und die Spanienkämpfer*innen

Zwischen 1939 und 1941 werden die Personalakten, die in der Basis der Internationalen Brigaden (IB) in Albacete über die Teilnehmer*innen am Krieg in Spanien angelegt wurden, von der Kaderabteilung der exilierten Spanischen Kommunistischen Partei (PCE) und der Kommunistischen Internationale (Komintern, KI) in Moskau ausgewertet. Der Leiter der Spionageabwehr der IB, der deutsche Kommunist Gustav Szinda (1897–1988), verwendet in seinen Charakteristiken nicht nur biografische Angaben und Einschätzungen, sondern bewertet – überwiegend in denunziatorischer Weise – die Persönlichkeiten der Kämpfer*innen.

In seinem Memorandum vom 2. Februar 1940 über Heinrich Bogula heißt es u. a., er sei nicht Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen, da er im Exil „1934 aus der KPD wegen Unterschlagung ausgeschlossen“ worden sei. Im Juli 1936 sei er nach Spanien gekommen und habe der Kolonne Durruti angehört. Militärisch sei über ihn „nichts bekannt“. Er habe sich „längere Zeit in Barcelona herum[getrieben]“. Während der Kämpfe „des Mai-Putsches der POUMisten“ zwischen den verschiedenen politischen Parteien auf der republikanischen Seite „gehörte [er] den Terroristen und Verbrecherkreis an“, welche einen republikanischen Kommandanten erschossen haben sollen. Bogula sei „ein degeneriertes Element, welches aller verbrecherischen Schandtaten fähig“ sei. Bei ihm sei „auch weiterhin äusserste Vorsicht am Platze“.

Auslieferung – Odyssee im Universum der Konzentrationslager

1942 wird Heinrich Bogula vom Vichy-Regime an die Gestapo ausgeliefert und in Paris inhaftiert. Im August 1943 wird er in das Konzentrationslager Dachau deportiert. Er erreicht am 27. August 1943 als „Schutzhäftling“ Nr. 50546 das Lager. Anfang September wird er in das in den Vogesen gelegene Konzentrationslager Natzweiler/Struthof transportiert. Dort werden die Häftlinge sowohl in den nahe gelegen Steinbrüchen zur Zwangsarbeit eingesetzt, sie werden aber auch in über fünfzig Außenlagern in Südwest-Deutschland von der SS an ‚kriegswichtige‘ Unternehmen ausgeliehen. Im November 1944 wird das Konzentrationslager Natzweiler/Struthof wegen der Erfolge der militärischen Offensive der Alliierten aufgelöst.

Ein Teil der Gefangenen wird auf Todesmärschen erneut in das Konzentrationslager Dachau gezwungen, das Bogula im September 1944 erreicht. Ab Mitte Januar 1945 wird er der XIII. SS. Bau-Brigade zugewiesen, die in einem „KZ auf Schienen“ in bewachten Eisenbahnwaggons am Bahnhof Limburg an der Lahn inhaftiert waren. Sie müssen unter Lebensgefahr während der alliierten Luftangriffe zerstörte Gleisanlagen reparieren. Ende Januar befindet er sich erneut auf einem Transport in den Süden Deutschlands, wiederum in das Konzentrationslager Dachau und seiner zahlreichen Nebenlager.

Befreiung und Leben in der DDR

Ende April 1945 wird Heinrich Bogula von heranrückenden Einheiten der US-Armee befreit. Im Mai 1946 zieht er aus der amerikanischen Besatzungszone in Bayern in die am nördlichen Rand des Erzgebirges gelegene sächsische Bergbaustadt Freiberg, die zu dieser Zeit unter sowjetischer Verwaltung steht. Bogula ist wegen seiner Verwundungen aus dem Krieg in Spanien, der Zeit in den französischen Internierungslagern, in den deutschen Konzentrationslagern und der dort abzuleistenden Zwangsarbeit in schlechter gesundheitlicher Verfassung. Er wird zwar zum stellvertretenden Leiter der Kreispolizei in Freiberg ernannt, befindet sich jedoch im Gesundheitsurlaub. Zwischenzeitlich arbeitet er auch als Organisationsleiter der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Weimar. Er ist in der VVN organisiert und Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), die aus dem Zusammenschluss von SPD und KPD im sowjetischen Besatzungsgebiet hervorgeht. Von Januar bis Juli 1947 befindet sich Bogula in Wismar.

1950 stellt er an den Osnabrücker Hilfsausschuß für politische Gefangene und deren Angehörige einen Antrag auf Unterstützung. Der Kreissonderhilfsausschuß Osnabrück-Stadt, der auch für die Anerkennung von Haftentschädigungen zuständig ist, kommt in seiner Sitzung vom 21. Dezember 1950 zu dem Ergebnis, daß Heinrich Bogula keinen Anspruch auf Hilfszahlungen habe, da er nicht mehr in Osnabrück gemeldet sei.

Ab Mai 1951 ist Bogula beim Thüringschen Landesvorstand der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft beschäftigt, erkrankt aber erneut. Zwischenzeitlich wird ihm der Status als Opfer des Faschismus aberkannt, 1958 wird er „wegen unmoralischen Verhaltens“ aus der SED ausgeschlossen.

Das weitere Leben von Heinrich Bogula ist – soweit bekannt – von erneuten häufigen Ortswechseln gekennzeichnet, die ihn von Weimar (1951) nach Karl-Marx-Stadt (1956) und schließlich nach Pasenow im Kreis Strasburg (1966 bis 1970) führen.

Heinrich Bogula stirbt am 9. Juli 1976 im Alter von 73 Jahren in Mildenitz im Kreis Strasburg in der Uckermark.

Quellen und Literatur:

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (SAPMO)

Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Osnabrück

Deutscher Reichsanzeiger, Nr. 197, 23.08.1940

Werner Abel, Enrico Hilbert: „Sie werden nicht durchkommen“. Deutsche an der Seite der Spanischen Republik und der sozialen Revolution. Bd. 1. Lich: Edition Av, 2015, S. 75.

Michael Uhl: Die internationalen Brigaden im Spiegel neuer Dokumente. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz (IWK) 1999, Nr. 4, S. 486-518.

 

Die  Biografie von Heinrich Bogula wurde zuerst im Rahmen der Ausstellung UPTHEREPUBLIC. Literatur und Medien im Spanischen Krieg (1936–1939) vorgestellt, die vom 23. November 2006 bis zum 31. Januar 2007 in der Universitätsbibliothek der Universität Osnabrück statt fand. Sie wurde jedoch nicht in den die Ausstellung begleitenden Katalog aufgenommen. Der obige Text ist eine überarbeitete Fassung.

Für Anmerkungen verweisen wir auf unsere Mail-Adresse.

8. Mai 1945 Tag der Befreiung? Ein Grund zum Feiern?

Die Gründe, an das Ende des Nazi-Faschismus, des deutschen Vernichtungskrieges und seine Opfer vor 77 Jahren zu erinnern, sind vielfältig. Wir laden deshalb am 8.5.2022 zu einer Veranstaltung ein, auf der wir Erinnerungszeugnisse präsentieren möchten und die Bedeutung und Zukunft des 8. Mai diskutiert werden.

Das Bündnis 8.Mai Osnabrück lädt zu einer Veranstaltung am 8.5.2022 um 15 Uhr im SubstAnZ, Frankenstraße 25A, Osnabrück ein.

Wir dokumentieren den Ankündigungstext:

Wir gedenken am 8. Mai der Opfer des NS-Terrors und der Wehrmachtsverbrechen in
Europa.

Wir erinnern erneut an den Schwur von Buchenwald, in dem es heißt: „Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Eine Welt ohne Krieg ist weiter entfernt denn je. Wir beklagen die Opfer des russischen Expansionskriegs. Der Krieg gegen die Ukraine ist ohne Einschränkung zu verurteilen. Kriegsflüchtlinge müssen ohne Unterschied in der Bundesrepublik aufgenommen und unterstützt werden.

Wir trauern um Boris Romantschenko, einen Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz,der im Alter von 96 Jahren bei einem russischen Luftangriff in Charkiw getötet wurde. Weitere Überlebende der Shoah und des Zweiten Weltkrieges werden heute abermals durch den russischen Krieg mit dem Tod bedroht.
Eva Fahidi, 96-jährige ungarische jüdische Überlebende des Holocaust, sagte: „Alles, wofür wir nach unserer Befreiung aus Auschwitz, Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen in den letzten Jahrzehnten gelebt haben, wofür wir aufgestanden sind und warum wir mit jungen Menschen in Europa unsere Erinnerungen geteilt haben – all dies entehrt und missachtet Putin mit seinen Generälen. Es hieß immer, wir, die Überlebenden der Lager, seien das Gewissen der Welt. Putin hat kein Gewissen, er hat mit uns nichts zu tun, Schande über ihn und seine Lügen. Unsere Gedanken gehen in diesen Tagen zur Familie von Boris Romantschenko und zu allen Überlebenden des Holocaust in der Ukraine, die unter russischen Bomben um ihr Leben fürchten. Sie gehen aber auch zu den Eltern der jungen russischen Soldaten, die Putin in diesem Krieg verheizt hat und die gefallen sind.“

Der 8. Mai fordert immer wieder zu einer historischen Positionierung heraus: Ist er ein Tag der Befreiung, gab es einen Neuanfang, eine ‚Stunde Null‘? Haben sich die politisch-ökonomischen Verhältnisse, auf denen der Nationalsozialismus fußte, maßgeblich geändert? Er verlangt entsprechend nach einer aktuellen politischen Stellungnahme. Dies zeigen besonders deutlich die deutschen Reaktionen auf den Krieg gegen die Ukraine.

Der Außenpolitiker Röttgen (CDU) etwa spricht bereits in den ersten Tagen der russischen Invasion von einem russischen „Vernichtungskrieg“; eine bewusste sprachliche Anlehnung an die von den Nazis geplante ‚Endlösung‘, die industriell betriebene Auslöschung der jüdischen Bevölkerung und von Sinti und Roma in Europa, wie auch an den damit einhergehenden Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht, die besonders in den eroberten und besetzten Gebieten in der Sowjetunion und in Süd- und Südost-Europa Kriegsverbrechen beging. Bis heute werden hierfür geforderte Reparationszahlungen und Entschädigungen etwa an Griechenland und Polen verweigert. Die historisch sich verbietende Gleichsetzung des russischen Krieges gegen die Ukraine mit den Nazi-Verbrechen wird von der politisch-medialen Öffentlichkeit aufgegriffen und Teil der folgenden Kriegsberichterstattung.

Die vielfältigen Versuche, den deutschen Vernichtungs- und Ausrottungskrieg in Europa zu funktionalisieren und zu relativieren, sind zurückzuweisen.

Der Historiker Schlögel fordert kurz nach dem Beginn des russischen Aggressionskrieges von der internationalen Öffentlichkeit, wie im Spanischen Bürgerkrieg Internationale Brigaden zu bilden. Seine Forderung reiht sich ein in die
vielfältigen Herabsetzungen und Instrumentalisierungen des antifaschistischen Kampfes und Widerstands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die gleichzeitig in Spanien
stattfindende Soziale Revolution (1936/1937), die eine libertäre Form des Zusammenlebens erstrebte, erwähnt er nicht. Sie wurde bereits damals von der Kommunistischen Internationale bekämpft und diffamiert. Es geht ihm allein um
die militärische Intervention.

Die Forderungen nach einer Militarisierung der deutschen Interessenpolitik und der Aufrüstung der Bundeswehr werden tagtäglich mit einer aggressiveren Kriegsrhetorik befeuert. Für die deutschen Kampfverbände wird allenthalben Respekt und Anerkennung gefordert. Die Wehrpflicht soll reaktiviert oder ein Pflichtdienst
eingeführt werden. Die Grenzen zwischen militärischer und ziviler Intervention, etwa in der Corona-Pandemie, werden aufgeweicht. Das apokalyptische und vielfältig auslegbare Bild der „Zeitenwende“ (Scholz, SPD) wird bemüht, um auf die Kriegsökonomie einzustimmen, die gleichzeitig zur Rechtfertigung der weiteren
Zerstörung der Umwelt genutzt wird (Habeck, Grüne), eine Folge der diskutierten Reaktivierung der Atomkraft und Kohleverstromung. Lindner (FDP, zu Beginn der 1950er Jahre ein Sammelbecken von Altnazis, später von Islamfreunden) fordert derweil einschneidende wirtschaftliche Einschränkungen und „Entbehrungen“, die dazu führen werden, „den Gürtel enger zu schnallen“. Merz (CDU) pflichtet volksgemeinschaftlich bei: Der „Höhepunkt unseres Wohlstandes“ liege hinter uns. Indessen verspricht Baerbock (Grüne), Russland werde „ruiniert“ werden.

Während die Gedenkstätten in der Bundesrepublik aus dem Boden sprießen und Deutschland als viel gerühmter ‚Erinnerungs-Weltmeister‘ Karriere macht, werden Militarisierung und Nationalismus befördert. Kriegsehrendenkmäler preisen noch immer den „Ruhm für den deutschen Soldaten“ und Alt- und Neonazis fordern „Ruhm für die Waffen-SS“, während deutsche Politikerinnen parteiübergreifend den „Ruhm der Ukraine“ (Slawa Ukrajini) aufwärmen (von der Leyen, CDU, Graf Lambsdorff, FDP, Bundestags-Vizepräsidentin Göring-Eckhardt, Grüne). Dieser Schlachtruf, einst vom ukrainischen Faschistenführer Stepan Bandera und seiner Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) verwendet, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg mit Nazi-Deutschland verbunden war und als Nazi-Hilfstruppe an der Ermordung zehntausender Jüdinnen und Juden, Polinnen und Polen beteiligt war, wird seit 2018 als offizieller Gruß der ukrainischen Streitkräfte verwendet.

Die SPD hat eine Tradition als Kriegspartei: 1914 genehmigte sie die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg. 1999 führte sie die Bundesrepublik zusammen mit den Grünen in den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, deren Minister Fischer rechtfertigte die Entscheidung mit dem Verweis auf Auschwitz.

Auch die alte Personalisierung ‚Hitler war Schuld‘, die die deutschen Weltkriegsverbrechen nach 1945 entschuldigen sollte, feiert neuerlich ihre Rückkehr, wenn Historiker wie Winkler überlegen, „was Putin mit Hitler verbindet“. Die Gleichung „Putin = Hitler“ ist mittlerweile täglich präsent. Deutlich zu kritisieren ist allerdings Putins völkische Rede großrussischer Expansion und seine ‚antifaschistische‘ Phrase, die behauptet, dass die russische Armee die Ukraine befreien müsse. Zugleich ist es wohlfeil, Putins Imperialismus zu kritisieren, während die deutsche Hegemonie in Europa und die internationale Politik im Interesse der Kapitalsouveränität verklärt werden.

Das ist das Dilemma, mit dem sich der Antifaschist konfrontiert sieht:
Wer soll welche Vorkehrungen treffen, um die bestehende relative Freiheit bei Anerkennung ihrer Beschränktheit und Exklusivität verteidigen zu können – militärisch wie diskursiv? Dabei ist die innen- wie geopolitische und historische Situation der BRD eine ganz andere als die beispielsweise der baltischen Staaten oder gar Israels.

Bündnis 8. Mai Osnabrück

Dokumentarfilm: Landschaft des Widerstands

Am kommenden Freitag 11.03.2022 zeigt die antifaschistische videofilmreihe  um 18:00 Uhr im Cafe Mano Negra, Alte Münze 12, Osnabrück, den Dokumentarfilm Landschaft des Widerstands von Marta Popivoda (Serbien/Frankreich 2020, 94 Min.)
Zum Film:
Ein Dokumentarfilm über den Widerstand gegen den Faschismus. Zum einen berichtet die ehemalige serbische Partisanin Sonja Vujanović über ihren antifaschistischen Guerilla-Kampf im Zweiten Weltkrieg und ihre Beteiligung an einer Widerstandsgruppe im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau; zum anderen reflektieren die Filmautorinnen an­gesichts der zehn Jahre um­fassenden Besuche bei der ehemaligen Partisanin über ihre eigenen Erfahrungen mit der Rückkehr autoritärer Regime in Europa. Eine filmische Rekonstruktion, die weibliche Gesichter des Krieges und Widerstands enthüllt und auf die zahlreichen Morde der deutschen Wehrmacht, besonders gegen die serbische Zivilbevölkerung, aufmerksam macht.

Kundgebung zur Befreiung vom Nazi-Faschismus vor 75 Jahren

Wir unterstützen den Aufruf des Bündnisses 8. Mai zur
Kundgebung am Samstag, 9.5.2020, 14 Uhr, Theatervorplatz Osnabrück

Wir rufen alle Antifaschistinnen und Antifaschisten auf, der Befreiung vom Nazi-Faschismus vor 75 Jahren zu gedenken.

Am 8. bzw. 9. Mai 1945 kapitulierte die deutsche Wehrmacht bedingungslos. Ganz Europa war verwüstet worden. Millionen Tote, Verwundete und Vergewaltigte forderte der zweite Weltkrieg der Deutschen. In den Konzentrationslagern und Vernichtungsstätten wurden Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, politische Gegner*, Zwangsarbeiter*, Deserteure, sogenannte Gemeinschaftsfremde und Asoziale, Soldaten der Antihitlerkoalition und unzählige andere Menschen misshandelt und ermordet. In verlustreichen Kämpfen brachten die Alliierten und Widerstandskämpfer* der Résistance den Krieg an seinen Ausgangsort zurück und zerschlugen das deutsche Militär.

Wir gedenken der Opfer des NS-Terrors und der Wehrmachtsverbrechen.

Wir erinnern an den Schwur von Buchenwald, in dem es heißt:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“

Die Überlebenden von Buchenwald ahnten in ihrer Erklärung die Brüchigkeit des vorläufigen Sieges über den Nazismus.

Antifaschistischer Widerstand
Mit aller Härte musste gekämpft werden gegen ein Volk, das sich einig war im gemeinsamen Wahn der Judenvernichtung, und das sich an der Heimatfront ebenso wie im russischen Schnee bereitwillig aufopferte. Ausnahmen – Menschen, die sich nicht der nationalsozialistischen Massenbewegung anschlossen – gab es, aber ihrer waren erschreckend wenige: Kommunisten*, Linkssozialisten*, Anarchisten*, auch etliche Sozialdemokraten* und einige Konservative, Liberale oder Anhänger* anderer bürgerlicher Ideologien sowie antifaschistische oder pazifistische Christen*, junge Leute, die sich dem Mitmachen verweigerten, Edelweißpiraten* und Swing-Jugendliche. Sie wurden systematisch bekämpft, viele von ihnen endeten im Konzentrationslager, Arbeitslager und im Zuchthaus. Sie hatten auf Befreiung gehofft, von innen her oft vergeblich versucht, aktiv zur Niederlage Nazi-Deutschlands beizutragen. Andere von ihnen, die ins Exil hatten gehen müssen, beteiligten sich – z. B. durch Mitarbeit im amerikanischen Geheimdienst, im Dienst der Roten Armee oder der Organisierung von Sabotageaktionen im Reichsgebiet – von außen an diesem Versuch. In der DDR teilweise zu nationalen Helden* hochstilisiert, wurden sie in der BRD ignoriert und im wiedervereinigten Deutschland bis in die jüngste Gegenwart nur zögerlich beachtet.

Befreiung für wen?
Anders die Angehörigen der deutschen Militär- und Machteliten, die zunächst dem NS-Regime gedient, und deren wenige dann dessen Spitze auszuschalten versucht hatten, wie die Stauffenberg-Attentäter. Einige kamen mit dem Leben davon, und sie konnten sich nach dem Sieg der Alliierten durchaus befreit fühlen. Aber diese Art der Befreiung hatten sie mit ihrem Widerstand nicht herbeiführen wollen, die Niederlage Deutschlands hatten sie gewiss nicht im Sinn.
Die erschlagende Mehrheit der deutschen Bevölkerung aber war bis zum bitteren Ende regimekonform geblieben, hatte „bis zum letzten Mann“ den „Traum“ der Volksgemeinschaft zu verteidigen versucht. Noch in den ersten Mai-Tagen forderte der irrwitzige Kampf der letzten Volkssturm-Aufgebote und versprengten Wehrmachts- und SS-Einheiten, die das Helden-Walhalla der Kapitulation und Entnazifizierung vorzogen, weitere Opfer. Selbst als die Rote Armee vor der Tür stand und die militärische Niederlage unausweichlich war, ging der Massenmord in den Konzentrationslagern und auf den Todesmärschen ohne Unterlass weiter. Die deutsche Volksgemeinschaft hatte auch im Mai 1945 mit „Befreiung“ nichts im Sinn, viele hofften noch bis zum Abgang des „Führers“ auf eine militärische Wende. Zahlreiche Deutsche rechneten gar damit, dass die Koalitionen im letzten Moment noch wechseln und die westlichen Alliierten dann gemeinsam mit den Deutschen gegen den „bolschewistischen Hauptfeind“ zu Felde ziehen würden.
Wenngleich die Deutschen militärisch besiegt wurden, ergab sich nach dem 8. Mai 1945 eine höchst eigentümliche historische Situation.

Postnazistisches Deutschland
Die Anti-Hitler-Koalition konnte nicht über die konkurrenzimperiale Konstellation der Westmächte und der UdSSR hinwegtäuschen. Das Bündnis gegen Deutschland war ein Zusammenschluss auf Zeit und auf einen spezifischen Zweck hin, es betraf nicht die Vorgehensweise nach dem Sieg über den NS-Faschismus. Eben deshalb kam es in den Westzonen nach dem Mai 1945 bald dazu, dass die vom Nationalsozialismus „befreiten“ Deutschen erneut frei wurden, bestimmte ideologische Teilstücke und personelle Bestände aus der Nazizeit weiterzutradieren oder wiederzuverwenden; insbesondere frei dazu, die Front gegen den „Osten“ im Kalten Krieg zu stärken. Ohne großartige Revision wurde an den nazistischen Antibolschewismus angeknüpft. In der Bürokratie, Justiz, Ideologieproduktion und dann im wieder gebildeten Militärapparat fanden die ehemaligen NS-Leistungsträger* und -Unterstützer* erneute Verwendung. Auch die ehemaligen Wehrwirtschaftsführer waren bald wieder im Geschäft, ehemalige NS-Funktionäre* verrichteten nun Dienste für die westlichen Geheimdienstapparate.
So wurde eine konsequente Entnazifizierung der der neuen weltpolitischen Lage „angemesseneren“ Verfahrensweise geopfert. Statt der Umsetzung der einzigen Konsequenz, die aus der Geschichte hätte gezogen werden dürfen: dass es Deutschland nie wieder geben darf, wurde das „Dritte Reich“ lediglich in eine postnazistische BRD transformiert, deren Kontinuitäten bis heute fortdauern.
Auch in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR bedienten sich die Militärverwalter* und später die „sozialistische“ Führung der Nützlichkeit ehemaliger faschistischer Funktionäre*. Allerdings geschah dies individuell, generell wurden die Funktionseliten ausgewechselt. Viele Leistungsträger* aus der Zeit vor 1945 gingen ab nach Westdeutschland. Die DDR definierte sich historisch als Produkt eines deutschen Antifaschismus. Wenngleich deutsche Gegner* des NS-Staates, die sich für das „andere Deutschland“ hielten, beim Aufbau der DDR mitwirkten, fand dieser staatlich inszenierte Antifaschismus kaum sein Gegenstück in der Bevölkerung. Durch sein unverbrüchliches Anknüpfen an nationalistische Parolen und zum Antizionismus „gewendete“ antisemitische Ideologie entlarvte er sich als der Mythos, der er von Anfang an war. Die „Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus“ diente größtenteils nichts anderem als der nationalen Reinwaschung.

Organisierter Faschismus
Das Verbot faschistischer Organisationen durch die alliierten Siegermächte hatte keinen langen Bestand. Es wurde durch antisemitische und revanchistische Nachfolgeorganisationen und -parteien schon bald unterlaufen, so in der BRD durch die „Sozialistische Reichspartei Deutschlands“ (SRP, von 1949 bis 1952 aktiv; 1951 erhielt sie 11% der Stimmen bei der niedersächsischen Landtagswahl). In der DDR wurde 1948 die „National-Demokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) zugelassen, gedacht als Auffangbecken für ehemalige Nazi-Funktionäre und Soldaten. 1964 wurde in der BRD die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD) gegründet. Sie erhielt großen Zulauf und zog in mehrere Landesparlamente ein. Seit 1971 agierte die „Deutsche Volksunion“ (DVU). Ebenfalls in Länderparlamenten vertreten, gab sie bis Ende letzten Jahres u. a. die „National-Zeitung“ heraus. 1983 wurden „Die Republikaner“ (REP) gegründet, auch sie zogen in Länder- und das EU-Parlament ein. Kontinuität stiftete gleichfalls die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS e.V.“ (HIAG). 1951 gegründet, widmete sie sich der Gleichstellung der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS mit den Wehrmachtssoldaten und der Rehabilitierung der Waffen-SS. 1978 existierten 118 Orts- und Kreisverbände. Der Bundesverband löste sich 1992 auf, einzelne Lokalgruppen existieren weiter. Vertriebenenverbände stellen bis heute die deutschen Staatsgrenzen in Frage. Ein Teil der studentischen Verbindungen und Burschenschaften pflegt die Nazi-Ideologie und füllt das Reservoir an reaktionären Eliten auf.
Zuletzt hat sich, neben allerlei Neugründungen von Neo-Nazi-Parteien wie „Die Rechte“, „Der III. Weg“ und völkischen Bewegungen wie die „Identitäre Bewegung“ und PEGIDA, besonders die populistische „Alternative für Deutschland“ (AfD) in den Parlamenten etabliert. Sie befördert mit ihren Unterstützern* und parlamentarischen Verbündeten die Normalisierung völkisch-rassistischer Politik. Gleichzeitig werden die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlost und die Erinnerung daran revidiert. Die Nazi-Herrschaft zwischen 1933 und 1945 sei nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte gewesen, so A. Gauland.
Der bewaffnete, international organisierte Neo-Nazismus ist seit der Gründung der BRD aktiv. Vom Attentat auf das Münchener Oktoberfest 1980 über die „Wehrsportgruppe Hoffmann“ bis zur „Gruppe Freital“ und zum Attentat in Kassel zieht er mordend durchs Land. Er rekrutiert sich teils aus staatlichen Institutionen, beteiligt sind dabei Polizistinnen und Polizisten, ReservistInnen, Militärs und Elitekämpfer der Bundeswehr. Jüdisches Leben wird nicht erst seit dem Attentat in Halle angegriffen und bedroht. Tagtäglich werden Jüdinnen und Juden in der Öffentlichkeit verachtet, angepöbelt, selbst in Schulen attackiert. In Moscheen wird der islamistische Rassismus und Antisemitismus gepredigt, der sich auch mit Nazis und völkischen Konservativen verbindet: Rechter Terror und jihadistische Terroristen schließen temporäre Kooperationen. Bereits in den 1930er Jahren schlossen die Nazis Bündnisse mit dem Großmufti Mohammed Amin al-Husseini von Jerusalem.
Der Staats-Islamismus des Autokraten Erdogan und sein expansionistisches Konzept des Großtürkentums verbündet sich in der Bundesrepublik, so auch in Osnabrück mit den faschistischen ‚Grauen Wölfen‘ gegen Kurdinnen und Kurden, die von EU-Behörden zu Terroristen* deklariert und von der Justiz verfolgt werden. Die vom türkischen Staat bezahlte und gesteuerte DITIB steht in Verhandlungen mit der niedersächsischen Landesregierung über eine Grundschul-Religions-Partnerschaft, der Osnabrücker Oberbürgermeister Griesert hofiert islamistische Religionsgemeinden während des Ramadans.

Was bedeutet der Schwur von Buchenwald für den Antifaschismus heute?
Das Schlußstrich-Geheule aus allen Gesellschaftsecken will das „Nie wieder Faschismus!“ des Buchenwald-Schwurs zerbröseln, Gedenkstätten müssen sich gegen Besucher* verteidigen, die den Holocaust leugnen. Allein wenn es Opfer des Neo-Nazismus zu beklagen gibt, rufen Staatseliten nach antifaschistischem Engagement bzw. Export-Industrieunternehmen sorgen sich um ihr internationales Ansehen. Derweil läuft das Geschäft mit dem islamistischen Iran, der die Vernichtung Israels projektiert, des ersten Staates, der die Existenz jüdischen Lebens garantiert. Wer ernst macht mit dem Aufruf: „Keinen Fußbreit den Faschisten!“ wird hierzulande mit dem polizeilichen Gewaltmonopol konfrontiert und in die Schranken der freien Meinungsäußerung gewiesen. Gestattet werden Nazi-Aufmärsche wie für die verurteilte Holocaust-Leugnerin U. Haverbeck in Bielefeld. In Politik, Medien und der Wissenschaft wird mit der Totalitarismusthese das antagonistische Verhältnis zwischen Faschisten* und ihren Gegnern* in Abrede gestellt, sie setzt Antifaschistinnen und Antifaschisten mit Nazis auf eine Stufe. Antifaschistischen Organisationen wie der überparteilichen „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten“ (VVN-BdA), die von Überlebenden der Shoah gegründet wurde, wird mit dem Vorwurf des Extremismus unter der Aufsicht eines sozialdemokratischen Finanzministers die Gemeinnützigkeit und damit die Möglichkeit der Finanzierung durch Spenden entzogen. Hiergegen hat Antifaschismus gemeinnützig zu bleiben!
Wir fordern die Wiedereinführung des 8. Mai als Feiertag, der nur von 1950-1966 in der DDR arbeitsfrei begangen wurde.
Zugleich fühlt sich dieses Land als moralischer und Erinnerungsweltmeister. Der Anspruch jedoch, ein „Gedenken jenseits von Ritual und Schlussstrich“ zu betreiben, ist überwiegend funktional für das eigene Image im lokalen wie nationalen „Friedenslabor“. Dagegen muss ein Erinnern frei von Instrumentalisierung sein – in allen politischen Lagern. Gedenken hat nur eine Konsequenz aus dem Leiden der Opfer zu ziehen: Alles dafür zu tun, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe. Und auch wenn es in keinem Vergleich zu den Untaten des Deutschen Faschismus steht, ist der Hunger, ist das Sterben von Menschen an den Grenzen der EU zu beenden.
Die Forderungen des Schwurs von Buchenwald sind nicht eingelöst. Eine menschliche Welt des Friedens und der Freiheit bleibt zu verwirklichen. Die gesellschaftliche Grundlage, auf der der Nationalsozialismus aufbaute und die er zugleich auf schreckliche Weise aufzuheben antrat, besteht fort: der Kapitalismus. Auf Konkurrenz und die permanente Nichteinlösung des Glücksversprechens der warenförmigen Vergesellschaftungsweise reagieren die Einzelnen durch übersteigerte Identifikation mit dem eigenen Kollektiv und die Absonderung vom als feindlich wahrgenommenen Fremden, immer wieder identifiziert im Juden, der als übermächtig halluziniert wird.
Die demokratische Befreiung erinnern muss bedeuten, den antifaschistischen Kampf für eine solidarische Gesellschaft voranzutreiben. In diesem Sinne gilt unsere Solidarität zuallererst den Überlebenden, in vielen Fällen traumatisiert und bis heute nicht oder nur unzureichend entschädigt. Wir gedenken der Opfer, die in deutschem Namen leiden und sterben mussten.

Bündnis 8. Mai

Wir bitten darum, auf das Mitbringen und Zeigen jeglicher Flaggen, Transparente und Symbole zu verzichten.

Funktion und Praxis des Gesundheitsamts der Stadt Osnabrück in der NS-Zeit

Am 4. April 1945 befreiten britische und kanadische Truppen die Stadt Osnabrück vom Nazi-Faschismus. Die lokalen Nazi-FunktionärInnen und städtischen FunktionsträgerInnen hatten in den meisten Fällen nicht viel zu befürchten.
Der zum 75. Jahrestag geplante antifaschistische Stadtrundgang zu zentralen Orten faschistischer Herrschaft und Gewalt in Osnabrück, der aufgrund der behördlichen Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden konnte, ist nun Anlass, stellvertretend eine Einrichtung näher zu betrachten.

Die Anerkennung der individuellen Rechte und Freiheiten kranker wie auch gesunder Menschen ist unter staatlicher Aufsicht veränderbar, nicht garantiert und permanent bedroht. Diese Rechte unterliegen, in unterschiedlicher Intensität, diversen Interessenkoalitionen, der wissenschaftlichen Forschung, den ökonomischen Bedingungen und den vorherrschenden ideologischen Überzeugungen. Die naturwissenschaftlich verklärte Eugenik, die ‚Wissenschaft vom guten Erbe‘, in Deutschland während der Nazi-Zeit auch als ‚Rassenhygiene‘ popularisiert, heute als ‚moderne Humangenetik‘, wie die Pränataldiagnostik, mit neuen Formen der Selektion beworben, nimmt für sich in Anspruch bestimmen zu können, was als ‚gutes Erbgut‘ zu gelten habe. Als ‚positive Eugenik‘, die ‚Verbesserung‘ des Erbgutes durch züchterische Maßnahmen, zielt sie auf Werte wie höhere Intelligenz, robustere körperliche Konstitution, Schönheit oder ‚rassische Reinheit‘. Als ’negative Eugenik‘ verfolgt sie die Beseitigung ’schlechten Erbgutes‘ aus dem Genpool einer Bevölkerung zugunsten zukünftiger Generationen. Gleichzeitig relativiert sie den Wert der selbstbestimmten und in Frage gestellten Individualität. Nicht erst der NS-Staat definierte, wer wertvoll und wer wertlos für die ‚Volksgemeinschaft‘ bzw. für die Gesellschaft war, und verfolgte als ‚unnütze Esser‘, ‚Ballastexistenzen‘, ‚Minderwertige‘ oder ‚Asoziale‘ pseudowissenschaftlich klassifizierte Menschen.

Kontinuität

In Osnabrück, wie auch im gesamten NS-Reich, musste der Leitgedanke der ‚Rassenhygiene‘ nicht aufgezwungen, erpresst oder gewaltsam durchgesetzt werden. Er wurde mitgetragen von Menschen, die mit den Ideen und Vorstellungen der NationalsozialistInnen übereinstimmten. Sie integrierten sich, wurden „Hitlers willige Vollstrecker“ (Daniel J. Goldhagen) und waren oftmals bereits lange vor 1933 NationalsozialistInnen. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen wie auch ihre tödlichen Konzepte wirkten und wirken nach 1945 weiter. Gerade deshalb fällt es schwer, die militärische Niederlage der deutschen Vernichtungsmaschinerie als Befreiung zu sehen, denn auch wenn es für die allermeisten Opfer ihre Befreiung war, verhöhnten und drangsalierten die NS-TäterInnen diese oftmals weiterhin. Etwa indem nach 75 Jahren die Ermordung der als ‚asozial‘ Verfolgten als Unrecht bezeichnet wird, während ihre Entschädigung weiterhin ausgeschlossen bleibt und ihre Stigmatisierung, wie auch bei anderen Verfolgten, lange vor der Nazi-Zeit begann und sich bis in die Gegenwart fortsetzt.

Das Gesundheitsamt Osnabrück

Eine wichtige Institution für die ‚rassenhygienische‘ NS-Deutungsmacht war das städtische Gesundheitsamt. Es befand sich in Osnabrück ab 1934 im zweiten Stock am Neuen Graben 11. Der Neubau war 1929 auf dem Grundstück des zum Schloss gehörigen Holzhofes errichtet worden, wie dem Osnabrücker Verwaltungsbericht von 1935/37 zu entnehmen ist. Gleichfalls war die „Allgemeine Ortskrankenkasse“ (AOK) seit der Weimarer bis in die jüngere Zeit dort untergebracht, allerdings mit der Adresse Neuer Graben 27. Heute befinden sich dort u. a. das Studierendensekretariat der Universität und der Uni-Shop.

Am 3. Juli 1934 trat das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ in Kraft, das reichseinheitliche Gesundheitsämter vorschrieb. Sein Kernstück waren „Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege“, die allerdings vordringlich melden und erfassen als beraten sollten. Das Gesetz regelte bis ins Detail die Abläufe, mit denen die Verdächtigen denunziert, begutachtet und den Erbgesundheitsgerichten zur ärztlich-richterlichen Sterilisationsentscheidung vorgeführt werden sollten. Die bisher parallel geführten Karteien, Erhebungs- und Sippenbögen wurden nun in reichseinheitliche Register überführt und vereint. Das Format der Karteikarten, Sippentafeln und Untersuchungsformulare wurde vereinheitlicht, auch für Denunziationen gab es einen Vordruck.
Nachdem bereits 1934 die Zwangssterilisation die Zahl von 65.000 Frauen und Männern erreicht hatte, widmeten sich die Fürsorge- und Gesundheitsämter weiteren Bevölkerungsgruppen, an denen sich sparen ließ: So wurde das Ehestandsdarlehen für junge Paare und die Gewährung von Kindergeld an die erbbiologische Erfassung gekoppelt. Der Präsident der „Deutschen Statistischen Gesellschaft“, Friedrich Zahn formulierte in einem Aufsatz 1937 folgende Ziele: „Die Bevölkerungspolitik muß […] nach den Grundsätzen der Rassenhygiene auf Förderung der wertvollen Erbwerte, auf Verhinderung der Fortpflanzung minderwertigen Lebens, der erbgesundheitlichen Entartung, bedacht sein, m. a. W. eine Hochwertigenauslese einerseits, eine Ausmerze erbbiologisch unerwünschter Volksteile andererseits zielbewußt betreiben.“ Er begründete die Notwendigkeit, alle, nicht nur ‚Auffällige‘ zu erfassen:
„Sobald die Erhebungsarbeiten genügend vorangeschritten sind und eine laufende Beobachtung der erfaßten Personen einsetzen kann, wird die Mitwirkung und Einschaltung der statistischen Zentralstellen bei Aufbereitung des erbbiologischen Materials und Mitverwertung der sonstigen bevölkerungsstatistischen Nachweise zu klären und zu regeln sein. Mit der Durchführung der Gesamtkartei der Bevölkerung wird eine volksbiologische Diagnose erreicht, die als Theorie von heute die Praxis von morgen ergibt und vielseitigen Zwecken der Praxis und Wissenschaft dienstbar gemacht werden kann. Das nunmehr klare Bild vom Umfang der Erbbelastung, vom Gesundheitszustand der Bevölkerung, von der Gesundheitsbilanz gibt der Wissenschaft neuen Forschungsauftrieb zur Förderung der guten, zur Verhinderung der schlechten Erbmasse, zur erbbiologischen Gesundung des Körpers.“

Dr. Hermann Osthoff

In Osnabrück wurde der bisherige Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Rudolf vom Bruch durch das am 07.04.1933 verabschiedete „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen. Dieses diente dazu, „Beamte die nicht arischer Abstammung“ waren, in den Ruhestand zu versetzen, aber auch alle BeamtInnen , die nicht rückhaltlos für den Staat eintraten, zu entlassen. Im September 1935 wurde Dr. Hermann Osthoff, der bisherige Stellvertreter vom Bruchs und zweiter Stadtarzt, als neuer Leiter ernannt. Er trat am 01.05.1933 in die NSDAP ein, gehörte ab 1936 dem NS-Ärztebund an und stieg 1942 zum „städtischen Obermedizinalrat“ auf, eine neu geschaffene Stelle, die mit höherer Besoldung verbunden war. Ein Entnazifizierungsausschuss sah in ihm einen „unbedingt zu Entlassenden“. Hierdurch konnte er nach 1945 kein öffentliches Amt mehr wahrnehmen, allerdings seine Privatpraxis weiterführen. 1949 wurde er schließlich entlastet. Er wurde Mitglied in der „Heger Laischaft“ und dem „Osnabrücker Historischen Verein“, als dessen langjähriges Vorstandsmitglied er auftrat.

Das Gesundheitsamt unter seiner Führung nahm, wie der langjährige Oberbürgermeister Osnabrücks, das SA- und NSDAP-Mitglied Erich Gaertner, in dem bereits erwähnten Verwaltungsbericht hervorhob, eine Reihe „bedeutsamer Aufgaben“ wahr, die in „erster Linie […] das nach bevölkerungspolitischen und erb- und rassenpflegerischen Gesichtspunkten ausgerichtete Gesetzgebungswerk“ betrafen. Es sollte die der „Volkskraft und der Volksgesundheit drohenden Gefahren“ bannen. Hierzu zählte die „Durchführung der Ziele der Erb- und Rassenpflege: a) Hebung der Volkszahl, b) Verbesserung des Erbgutes, c) Erhaltung der Rasse“.
Die Abteilungen des Gesundheitsamtes umfassten neben der Verwaltung drei Teilabteilungen: 1. die Medizinal- und Sanitätspolizei; 2. die Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Dort wurden ‚Sippenakten‘ und ‚Personenkarten zur erbiologischen Erfassung‘ angelegt, wie Gaertner am 19.03.1936 an den Regierungspräsidenten Bernhard Eggers berichtet; 3. die Abteilung Gesundheitsführung und -fürsorge.

Neben öffentlichkeitswirksamen Programmen zum Schutz der „Volksgesundheit“ wurde die Propaganda für eine „Pflicht zur Gesundheit“ verstärkt. Gesundheit wie Krankheit waren keine Privatsache. In der Öffentlichkeit wurde zunehmend eine Kosten-Nutzen-Rechnung von medizinischen Therapien und die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen hervorgehoben. Der NS-Staat hatte die Vollzugsmacht übernommen: Die Einzelnen wurden als Kostenfaktor für die ‚Volksgemeinschaft‘ und als potentieller Ballast angesehen. Diese Grundlage wurde zur menschenverachtenden ‚Sonderbehandlung‘ fortentwickelt, der Vernichtung der ‚rassisch Minderwertigen‘.

NS-Gesetze

Gesetze wie das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ (1934) waren verbunden mit der Vorstellung von einer umfassenden „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ aller EinwohnerInnen. Diese sollte im Gesundheitsamt erfolgen. Dort wurden Kopien der im städtischen Krankenhaus oder in der Heil- und Pflegeanstalt angelegten PatientInnenkarteien zusammengeführt. Mit weiteren Informationen über Schulbildung und „Schulleistungen“, Vorstrafen, „Charakterentwicklungen“ und „Sonderbegabungen“, über den „Körperbautyp“ und „Erbkrankheiten“ entstanden die „Personenkarte zur erbbiologischen Erfassung“ bzw. familiäre Sippentafeln. In den „Sippentafeln“ wurden alle Nachkommen einer Großelterngeneration aufgeführt. Über die Erfassung und Abfassung der Karten wurden anleitende Merkblätter an die Gesundheitsämter verschickt.
Zu klassifizieren waren u. a. auch soziale und ethnische Gruppen. Hierdurch waren die ÄrztInnen auch für die Verfolgung und Ermordung der Osnabrücker Sinti mitverantwortlich. Ihre soziale Ausgrenzung begann mit dem Entzug der Wandergewerbescheine, der Kürzung der Wohlfahrtsunterstützung, der Verhängung von Sondersteuern, dem Ausschluss aus den Schulen und der Anordnung von Zwangsarbeit. Im November 1938 wurden sie gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen und in den am Stadtrand von Osnabrück liegenden Baracken, der „Papenhütte“, zu leben. Ein Großteil der Osnabrücker Sinti wurde ‚erbbiologisch‘ erfasst und deportiert.

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war unter dem NS-Regime am 1.1.1934 in Kraft getreten. Die Unfruchtbarmachung (Sterilisation) von vermeintlichen TrägerInnen manifester Erbschäden war jedoch bereits vor der Machtübergabe an die Nazis von EugenikerInnen und BevölkerungswissenschaftlerInnen diskutiert worden. Nun hatte sich die Anwendung der Zwangssterilisierung (§12) durchgesetzt. Beamtete Ärzte sowie die Leiter von Kranken-, Heil, Pflege- und Strafanstalten wurden zur Anzeige von Erbkrankheiten und Amtsärzte zur Beantragung der Sterilisation verpflichtet (§2, §3). Es wurde ein Katalog von ‚Erbkrankheiten‘ aufgeführt, der die Sterilisation für „angeborenen Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „manisch-depressives Irresein“, „erbliche Fallsucht (Epilepsie), „erblichen Veitstanz“ (Chorea), „erbliche Blindheit“, „erbliche Taubheit“ und „schwere erbliche körperliche Mißbildung“ sowie für „schweren Alkoholismus“ vorsah. Bei dem Diagnosekatalog handelte es sich um unscharfe Sammelkategorien, die eine Vielzahl von Erscheinungsformen erfassten. Im wesentlichen enthielten sie Beschreibungen der „Abweichung vom Normalen“ und waren mit sozialen Werturteilen verknüpft.

Die bewußt unscharfen Diagnosen führten zur Ausweitung von Zwangssterilisationmaßnahmen. Jüdische Menschen wurden nach einem Erlass des Reichsministeriums des Innern vom 01.10.1936 mit den „Minderwertigen“ gleichgestellt. Für Sinti und Roma wurde vorwiegend ‚Schwachsinn‘ oder ‚Asozialität‘ als Diagnose gestellt. Diese Gesetzgebung und Selektion führte zu einer Grenzverschiebung, die neben der Identifikation und Ausgrenzung der ‚Fremdrassigen‘ mit der ‚Asozialität‘ eine zweite Ebene nationalsozialistischer Ausrottungspraxis fand. In einem Artikel des „Beiheftes zum Reichsgesundheitsblatt“ wurden 1938 neue Merkmale und Gruppen herausgehoben:
„Die Verminderung des Nachwuchses der erblich Kranken und Untüchtigen hängt, da diese sich nicht selbst der Fortpflanzung enthalten, von einer Erhöhung der Ausmerzquote, d.h. von einer wesentlichen Erweiterung der Möglichkeiten der gesetzlichen Unfruchtbarmachung ab. Die bisherigen Möglichkeiten der Unfruchtbarmachung […] reichen nicht aus, namentlich im Hinblick auf Kriminelle, Arbeitsscheue, Anti- und Asoziale, aber auch im Hinblick auf andere erbliche Krankheiten, die wesentliche Beeinträchtigung der Lebensuntüchtigkeit und damit Belastung des Volkes bedingen.“ Mit dem Grunderlaß „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom 14.12.1937 wurde „asoziales Verhalten“ als Gefährdung der Allgemeinheit angesehen und mit kriminalpolizeilicher Vorbeugungshaft und Verschleppung in Konzentrationslager verfolgt. Bereits vor 1933 fand eine Diskriminierung und Verfolgung von Menschen aus sozialen Randbereichen der Gesellschaft statt. Nach der Machtübergabe an die Nazis erfolgten Verhaftungswellen gegen BettlerInnen und Razzien gegen Straßenprostituierte. Die Informationen über ‚Asoziale‘ erhielt die Polizei häufig aus Stadtverwaltungen und von Gesundheitsämtern, aber auch von DenuziantInnen aus der Nachbarschaft.

Das Erbgesundheitsgericht

Das neu eingerichtete Erbgesundheitsgericht in Osnabrück befand sich gegenüber dem Gesundheitsamt im sogenannten Küchenflügel auf der linken Seite des Schlosses. Heute befindet sich dort u. a. der Sitz der Präsidentin der Universität. Das Erbgesundheitsgericht war dem Amtsgericht angegliedert, ihm saß hauptamtlich Amtsgerichtsrat Röpke vor. Seine Sitzungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Anstaltsärzte wurden dort als Beisitzer eingebunden, so der Leiter der Osnabrücker Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Albert Kracke und sein Stellvertreter, Oberarzt Dr. Berhard Jutz. Überliefert ist eine Verhandlung über eine Frau, die am 11.11.1936 stattfand, an der Osthoff und Prof. Dr. Bogendörfer als Gutachter teilnahmen. Sie kamen in dem Beschluss zu dem Ergebnis, dass die „Hausgehilfin unfruchtbar zu machen“ sei. Aufzeichnungen Krackes aus Verhandlungen zeigen, dass auch „moralischer Schwachsinn“ verfolgt wurde. Wertungen wie „arbeitsscheu, störrisch oder unmoralisch“ sind hinreichende Kriterien für eine Sterilisation.

Die restlose Beobachtung des Lebens

Neben der „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden auch die Anträge für Ehestandsdarlehen nach dem „Gesetz über die Förderung der Eheschließungen“ geprüft. Die ständige Ausweitung der Befugnisse verdeutlicht ein Schreiben des Gesundheitsamtes Lingen vom 14.06.1936:
„Brautpaare, bei denen standesamtlich ein Ehetauglichkeitszeugnis gefordert wird, Anwärter auf ein Ehestandsdarlehen, Personen, die eine Einbürgerung beantragt haben, sämtliche Familien, die einen Antrag auf eine Kinderreichenbeihilfe gestellt haben, soweit möglich Schüler, Personen bei denen der Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt wurde, Siedler usw.“ .
Diese Personen erhielten zunächst einen Fragebogen zur Beurteilung der ‚Erbgesundheit‘ und mussten die Angaben für die Aufstellung der ‚Sippentafel‘ zu machen. Sie wurden dann eingehend untersucht, bevor ihnen das erforderliche Zeugnis ausgestellt.

Weiterhin erstellten die Gesundheitsämter Jahresgesundheitsberichte, die verschiedene Erkenntnisse aus vielfältigen Überwachungsaktivitäten zusammenfassten: hierzu gehörten Berichte von FürsorgerInnen, Akten aus Krankenhäusern und von Pflegeanstalten über Geschlechtskrankheiten und Alkoholfürsorge, wie auch Justizurteile und Ermittlungsakten bis hin zu Informationen von Hebammen. Sämtliche Lebensbereiche waren abgedeckt und erlaubten eine Erweiterung des Zugriffs, z. B. über die Schulen: LehrerInnen erstellten SchülerInnenbeurteilungen und Schulchroniken. Wer immer eine Gratifikation des NS-Staates in Anspruch nehmen wollte, musste über das Gesundheitsamt seine rassische Wertigkeit nachweisen.
Am 18. 07.1940, als viele der erfaßten Erbkranken bereits ermordet oder totgeweiht waren, erließ das Reichsinnenministerium mit den „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“ die gesundheitliche und soziale Einteilung der Reichsbevölkerung in vier Kategorien: „1. asoziale Personen, 2. tragbare Personen, 3. die Gruppe der Durchschnittsbevölkerung, 4. erbbiologisch besonders hochwertige Personen.“ Im Ministerialblatt hieß es zu der Personenkategorie der ‚Asozialen‘: „Asoziale sind vom Bezug jeder Zuwendung ausgeschlossen“; den „noch als tragbar anzusehenden Familien […] wird man z. B. Laufende Kinderhilfen nicht entziehen können, förderne Maßnahmen sind ihnen allerdings nicht zuzuwenden“; erst den „Durchschnittlichen“ sind „alle ehrenden und fördernden Maßnahmen wie Ehestandsdarlehen, Ausbildungsbeihilfen, Ehrenkreuz der Deutschen Mutter zuzubilligen“; die „Hochstehenden“ seien nur dann besonders zu bevorzugen, „wenn aus einer großen Zahl von Bewerbern nur wenige ausgewählt werden sollen.“
Die Beobachtung und Begutachtung der Bevölkerung erfolgte etwa in Hamburg ab 1934, ohne ihr Wissen, beim Arztbesuch. Die von den MedizinerInnen ausgefüllten Formulare wurden an die Gesundheitsbehörde weitergeleitet und dort zu einem „Zentralen Gesundheitspaßarchiv“ (GPA) zusammengefasst. Nach einem Jahr waren dort 200.000 HamburgerInnen registriert. Bis 1938 mussten noch bearbeitet werden: 3000 Akten über Homosexuelle, die seit 1935 von der Kriminalpolizei an das GPA abgegeben worden waren; 20.000 Akten aus der Tuberkolosefürsorge; 20.000 Akten über ‚Krüppel‘; 40.000 Fürsorgeakten der Sozialverwaltung; 250.000 erfaßte VerbrecherInnen bei der Kriminalbiologischen Sammelstelle; sowie 400.000 vertrauensärtzliche Gutachten der AOK.

Das Osnabrücker Gesundheitsamt mit seinen vielfältigen Aufgaben befindet sich mittlerweile als „Haus der Gesundheit“ in der Hakenstraße 6. Seine Geschichte ist bisher einer größeren Öffentlichkeit nicht bekannt. Die sozialdisziplinarische Kontrolle staatlicher und kommunaler Behörden ist in einem Sozialsystem angelegt, das ebenfalls auf Gesetzesgrundlagen basiert und gleichzeitig weite Ermessensspielräume einzelner EntscheiderInnen erlaubt. Die statistischen Möglichkeiten durch die Volkszählungen und der weniger umfassend scheinende Mikrozensus wie auch die Algorithmisierung der Gesellschaft sind immens. Die Kapitalisierung des Gesundheitssystems schreitet mit der gleichzeitigen Verknappung der Ressourcen voran.

Literatur:

Aly, Götz; Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch, überarbeitete Neuausgabe 2000, zuerst Berlin, 1984.

Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart: Klett, 1995.

Berger, Eva: Als das Volk geführt wurde. Gesundheitspolitik unter’m Hakenkreuz in Osnabrück. In: Topographien des Terrors. (Hg.) T. Heese. Bramsche: Rasch, 2. korrigierte Aufl. 2015, S. 247–261.

Böhne, Lisa: „Zwangssterilisation“. Osnabrück: Antifa-Archiv, 2003.

Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.