Am 4. April 1945 befreiten britische und kanadische Truppen die Stadt Osnabrück vom Nazi-Faschismus. Die lokalen Nazi-FunktionärInnen und städtischen FunktionsträgerInnen hatten in den meisten Fällen nicht viel zu befürchten.
Der zum 75. Jahrestag geplante antifaschistische Stadtrundgang zu zentralen Orten faschistischer Herrschaft und Gewalt in Osnabrück, der aufgrund der behördlichen Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden konnte, ist nun Anlass, stellvertretend eine Einrichtung näher zu betrachten.
Die Anerkennung der individuellen Rechte und Freiheiten kranker wie auch gesunder Menschen ist unter staatlicher Aufsicht veränderbar, nicht garantiert und permanent bedroht. Diese Rechte unterliegen, in unterschiedlicher Intensität, diversen Interessenkoalitionen, der wissenschaftlichen Forschung, den ökonomischen Bedingungen und den vorherrschenden ideologischen Überzeugungen. Die naturwissenschaftlich verklärte Eugenik, die ‚Wissenschaft vom guten Erbe‘, in Deutschland während der Nazi-Zeit auch als ‚Rassenhygiene‘ popularisiert, heute als ‚moderne Humangenetik‘, wie die Pränataldiagnostik, mit neuen Formen der Selektion beworben, nimmt für sich in Anspruch bestimmen zu können, was als ‚gutes Erbgut‘ zu gelten habe. Als ‚positive Eugenik‘, die ‚Verbesserung‘ des Erbgutes durch züchterische Maßnahmen, zielt sie auf Werte wie höhere Intelligenz, robustere körperliche Konstitution, Schönheit oder ‚rassische Reinheit‘. Als ’negative Eugenik‘ verfolgt sie die Beseitigung ’schlechten Erbgutes‘ aus dem Genpool einer Bevölkerung zugunsten zukünftiger Generationen. Gleichzeitig relativiert sie den Wert der selbstbestimmten und in Frage gestellten Individualität. Nicht erst der NS-Staat definierte, wer wertvoll und wer wertlos für die ‚Volksgemeinschaft‘ bzw. für die Gesellschaft war, und verfolgte als ‚unnütze Esser‘, ‚Ballastexistenzen‘, ‚Minderwertige‘ oder ‚Asoziale‘ pseudowissenschaftlich klassifizierte Menschen.
Kontinuität
In Osnabrück, wie auch im gesamten NS-Reich, musste der Leitgedanke der ‚Rassenhygiene‘ nicht aufgezwungen, erpresst oder gewaltsam durchgesetzt werden. Er wurde mitgetragen von Menschen, die mit den Ideen und Vorstellungen der NationalsozialistInnen übereinstimmten. Sie integrierten sich, wurden „Hitlers willige Vollstrecker“ (Daniel J. Goldhagen) und waren oftmals bereits lange vor 1933 NationalsozialistInnen. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen wie auch ihre tödlichen Konzepte wirkten und wirken nach 1945 weiter. Gerade deshalb fällt es schwer, die militärische Niederlage der deutschen Vernichtungsmaschinerie als Befreiung zu sehen, denn auch wenn es für die allermeisten Opfer ihre Befreiung war, verhöhnten und drangsalierten die NS-TäterInnen diese oftmals weiterhin. Etwa indem nach 75 Jahren die Ermordung der als ‚asozial‘ Verfolgten als Unrecht bezeichnet wird, während ihre Entschädigung weiterhin ausgeschlossen bleibt und ihre Stigmatisierung, wie auch bei anderen Verfolgten, lange vor der Nazi-Zeit begann und sich bis in die Gegenwart fortsetzt.
Das Gesundheitsamt Osnabrück
Eine wichtige Institution für die ‚rassenhygienische‘ NS-Deutungsmacht war das städtische Gesundheitsamt. Es befand sich in Osnabrück ab 1934 im zweiten Stock am Neuen Graben 11. Der Neubau war 1929 auf dem Grundstück des zum Schloss gehörigen Holzhofes errichtet worden, wie dem Osnabrücker Verwaltungsbericht von 1935/37 zu entnehmen ist. Gleichfalls war die „Allgemeine Ortskrankenkasse“ (AOK) seit der Weimarer bis in die jüngere Zeit dort untergebracht, allerdings mit der Adresse Neuer Graben 27. Heute befinden sich dort u. a. das Studierendensekretariat der Universität und der Uni-Shop.
Am 3. Juli 1934 trat das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ in Kraft, das reichseinheitliche Gesundheitsämter vorschrieb. Sein Kernstück waren „Beratungsstellen für Erb- und Rassenpflege“, die allerdings vordringlich melden und erfassen als beraten sollten. Das Gesetz regelte bis ins Detail die Abläufe, mit denen die Verdächtigen denunziert, begutachtet und den Erbgesundheitsgerichten zur ärztlich-richterlichen Sterilisationsentscheidung vorgeführt werden sollten. Die bisher parallel geführten Karteien, Erhebungs- und Sippenbögen wurden nun in reichseinheitliche Register überführt und vereint. Das Format der Karteikarten, Sippentafeln und Untersuchungsformulare wurde vereinheitlicht, auch für Denunziationen gab es einen Vordruck.
Nachdem bereits 1934 die Zwangssterilisation die Zahl von 65.000 Frauen und Männern erreicht hatte, widmeten sich die Fürsorge- und Gesundheitsämter weiteren Bevölkerungsgruppen, an denen sich sparen ließ: So wurde das Ehestandsdarlehen für junge Paare und die Gewährung von Kindergeld an die erbbiologische Erfassung gekoppelt. Der Präsident der „Deutschen Statistischen Gesellschaft“, Friedrich Zahn formulierte in einem Aufsatz 1937 folgende Ziele: „Die Bevölkerungspolitik muß […] nach den Grundsätzen der Rassenhygiene auf Förderung der wertvollen Erbwerte, auf Verhinderung der Fortpflanzung minderwertigen Lebens, der erbgesundheitlichen Entartung, bedacht sein, m. a. W. eine Hochwertigenauslese einerseits, eine Ausmerze erbbiologisch unerwünschter Volksteile andererseits zielbewußt betreiben.“ Er begründete die Notwendigkeit, alle, nicht nur ‚Auffällige‘ zu erfassen:
„Sobald die Erhebungsarbeiten genügend vorangeschritten sind und eine laufende Beobachtung der erfaßten Personen einsetzen kann, wird die Mitwirkung und Einschaltung der statistischen Zentralstellen bei Aufbereitung des erbbiologischen Materials und Mitverwertung der sonstigen bevölkerungsstatistischen Nachweise zu klären und zu regeln sein. Mit der Durchführung der Gesamtkartei der Bevölkerung wird eine volksbiologische Diagnose erreicht, die als Theorie von heute die Praxis von morgen ergibt und vielseitigen Zwecken der Praxis und Wissenschaft dienstbar gemacht werden kann. Das nunmehr klare Bild vom Umfang der Erbbelastung, vom Gesundheitszustand der Bevölkerung, von der Gesundheitsbilanz gibt der Wissenschaft neuen Forschungsauftrieb zur Förderung der guten, zur Verhinderung der schlechten Erbmasse, zur erbbiologischen Gesundung des Körpers.“
Dr. Hermann Osthoff
In Osnabrück wurde der bisherige Leiter des Gesundheitsamtes, Dr. Rudolf vom Bruch durch das am 07.04.1933 verabschiedete „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen. Dieses diente dazu, „Beamte die nicht arischer Abstammung“ waren, in den Ruhestand zu versetzen, aber auch alle BeamtInnen , die nicht rückhaltlos für den Staat eintraten, zu entlassen. Im September 1935 wurde Dr. Hermann Osthoff, der bisherige Stellvertreter vom Bruchs und zweiter Stadtarzt, als neuer Leiter ernannt. Er trat am 01.05.1933 in die NSDAP ein, gehörte ab 1936 dem NS-Ärztebund an und stieg 1942 zum „städtischen Obermedizinalrat“ auf, eine neu geschaffene Stelle, die mit höherer Besoldung verbunden war. Ein Entnazifizierungsausschuss sah in ihm einen „unbedingt zu Entlassenden“. Hierdurch konnte er nach 1945 kein öffentliches Amt mehr wahrnehmen, allerdings seine Privatpraxis weiterführen. 1949 wurde er schließlich entlastet. Er wurde Mitglied in der „Heger Laischaft“ und dem „Osnabrücker Historischen Verein“, als dessen langjähriges Vorstandsmitglied er auftrat.
Das Gesundheitsamt unter seiner Führung nahm, wie der langjährige Oberbürgermeister Osnabrücks, das SA- und NSDAP-Mitglied Erich Gaertner, in dem bereits erwähnten Verwaltungsbericht hervorhob, eine Reihe „bedeutsamer Aufgaben“ wahr, die in „erster Linie […] das nach bevölkerungspolitischen und erb- und rassenpflegerischen Gesichtspunkten ausgerichtete Gesetzgebungswerk“ betrafen. Es sollte die der „Volkskraft und der Volksgesundheit drohenden Gefahren“ bannen. Hierzu zählte die „Durchführung der Ziele der Erb- und Rassenpflege: a) Hebung der Volkszahl, b) Verbesserung des Erbgutes, c) Erhaltung der Rasse“.
Die Abteilungen des Gesundheitsamtes umfassten neben der Verwaltung drei Teilabteilungen: 1. die Medizinal- und Sanitätspolizei; 2. die Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Dort wurden ‚Sippenakten‘ und ‚Personenkarten zur erbiologischen Erfassung‘ angelegt, wie Gaertner am 19.03.1936 an den Regierungspräsidenten Bernhard Eggers berichtet; 3. die Abteilung Gesundheitsführung und -fürsorge.
Neben öffentlichkeitswirksamen Programmen zum Schutz der „Volksgesundheit“ wurde die Propaganda für eine „Pflicht zur Gesundheit“ verstärkt. Gesundheit wie Krankheit waren keine Privatsache. In der Öffentlichkeit wurde zunehmend eine Kosten-Nutzen-Rechnung von medizinischen Therapien und die Frage nach ihrem volkswirtschaftlichen Nutzen hervorgehoben. Der NS-Staat hatte die Vollzugsmacht übernommen: Die Einzelnen wurden als Kostenfaktor für die ‚Volksgemeinschaft‘ und als potentieller Ballast angesehen. Diese Grundlage wurde zur menschenverachtenden ‚Sonderbehandlung‘ fortentwickelt, der Vernichtung der ‚rassisch Minderwertigen‘.
NS-Gesetze
Gesetze wie das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ (1934) waren verbunden mit der Vorstellung von einer umfassenden „erbbiologischen Bestandsaufnahme“ aller EinwohnerInnen. Diese sollte im Gesundheitsamt erfolgen. Dort wurden Kopien der im städtischen Krankenhaus oder in der Heil- und Pflegeanstalt angelegten PatientInnenkarteien zusammengeführt. Mit weiteren Informationen über Schulbildung und „Schulleistungen“, Vorstrafen, „Charakterentwicklungen“ und „Sonderbegabungen“, über den „Körperbautyp“ und „Erbkrankheiten“ entstanden die „Personenkarte zur erbbiologischen Erfassung“ bzw. familiäre Sippentafeln. In den „Sippentafeln“ wurden alle Nachkommen einer Großelterngeneration aufgeführt. Über die Erfassung und Abfassung der Karten wurden anleitende Merkblätter an die Gesundheitsämter verschickt.
Zu klassifizieren waren u. a. auch soziale und ethnische Gruppen. Hierdurch waren die ÄrztInnen auch für die Verfolgung und Ermordung der Osnabrücker Sinti mitverantwortlich. Ihre soziale Ausgrenzung begann mit dem Entzug der Wandergewerbescheine, der Kürzung der Wohlfahrtsunterstützung, der Verhängung von Sondersteuern, dem Ausschluss aus den Schulen und der Anordnung von Zwangsarbeit. Im November 1938 wurden sie gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen und in den am Stadtrand von Osnabrück liegenden Baracken, der „Papenhütte“, zu leben. Ein Großteil der Osnabrücker Sinti wurde ‚erbbiologisch‘ erfasst und deportiert.
Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ war unter dem NS-Regime am 1.1.1934 in Kraft getreten. Die Unfruchtbarmachung (Sterilisation) von vermeintlichen TrägerInnen manifester Erbschäden war jedoch bereits vor der Machtübergabe an die Nazis von EugenikerInnen und BevölkerungswissenschaftlerInnen diskutiert worden. Nun hatte sich die Anwendung der Zwangssterilisierung (§12) durchgesetzt. Beamtete Ärzte sowie die Leiter von Kranken-, Heil, Pflege- und Strafanstalten wurden zur Anzeige von Erbkrankheiten und Amtsärzte zur Beantragung der Sterilisation verpflichtet (§2, §3). Es wurde ein Katalog von ‚Erbkrankheiten‘ aufgeführt, der die Sterilisation für „angeborenen Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „manisch-depressives Irresein“, „erbliche Fallsucht (Epilepsie), „erblichen Veitstanz“ (Chorea), „erbliche Blindheit“, „erbliche Taubheit“ und „schwere erbliche körperliche Mißbildung“ sowie für „schweren Alkoholismus“ vorsah. Bei dem Diagnosekatalog handelte es sich um unscharfe Sammelkategorien, die eine Vielzahl von Erscheinungsformen erfassten. Im wesentlichen enthielten sie Beschreibungen der „Abweichung vom Normalen“ und waren mit sozialen Werturteilen verknüpft.
Die bewußt unscharfen Diagnosen führten zur Ausweitung von Zwangssterilisationmaßnahmen. Jüdische Menschen wurden nach einem Erlass des Reichsministeriums des Innern vom 01.10.1936 mit den „Minderwertigen“ gleichgestellt. Für Sinti und Roma wurde vorwiegend ‚Schwachsinn‘ oder ‚Asozialität‘ als Diagnose gestellt. Diese Gesetzgebung und Selektion führte zu einer Grenzverschiebung, die neben der Identifikation und Ausgrenzung der ‚Fremdrassigen‘ mit der ‚Asozialität‘ eine zweite Ebene nationalsozialistischer Ausrottungspraxis fand. In einem Artikel des „Beiheftes zum Reichsgesundheitsblatt“ wurden 1938 neue Merkmale und Gruppen herausgehoben:
„Die Verminderung des Nachwuchses der erblich Kranken und Untüchtigen hängt, da diese sich nicht selbst der Fortpflanzung enthalten, von einer Erhöhung der Ausmerzquote, d.h. von einer wesentlichen Erweiterung der Möglichkeiten der gesetzlichen Unfruchtbarmachung ab. Die bisherigen Möglichkeiten der Unfruchtbarmachung […] reichen nicht aus, namentlich im Hinblick auf Kriminelle, Arbeitsscheue, Anti- und Asoziale, aber auch im Hinblick auf andere erbliche Krankheiten, die wesentliche Beeinträchtigung der Lebensuntüchtigkeit und damit Belastung des Volkes bedingen.“ Mit dem Grunderlaß „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom 14.12.1937 wurde „asoziales Verhalten“ als Gefährdung der Allgemeinheit angesehen und mit kriminalpolizeilicher Vorbeugungshaft und Verschleppung in Konzentrationslager verfolgt. Bereits vor 1933 fand eine Diskriminierung und Verfolgung von Menschen aus sozialen Randbereichen der Gesellschaft statt. Nach der Machtübergabe an die Nazis erfolgten Verhaftungswellen gegen BettlerInnen und Razzien gegen Straßenprostituierte. Die Informationen über ‚Asoziale‘ erhielt die Polizei häufig aus Stadtverwaltungen und von Gesundheitsämtern, aber auch von DenuziantInnen aus der Nachbarschaft.
Das Erbgesundheitsgericht
Das neu eingerichtete Erbgesundheitsgericht in Osnabrück befand sich gegenüber dem Gesundheitsamt im sogenannten Küchenflügel auf der linken Seite des Schlosses. Heute befindet sich dort u. a. der Sitz der Präsidentin der Universität. Das Erbgesundheitsgericht war dem Amtsgericht angegliedert, ihm saß hauptamtlich Amtsgerichtsrat Röpke vor. Seine Sitzungen fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Anstaltsärzte wurden dort als Beisitzer eingebunden, so der Leiter der Osnabrücker Heil- und Pflegeanstalt, Dr. Albert Kracke und sein Stellvertreter, Oberarzt Dr. Berhard Jutz. Überliefert ist eine Verhandlung über eine Frau, die am 11.11.1936 stattfand, an der Osthoff und Prof. Dr. Bogendörfer als Gutachter teilnahmen. Sie kamen in dem Beschluss zu dem Ergebnis, dass die „Hausgehilfin unfruchtbar zu machen“ sei. Aufzeichnungen Krackes aus Verhandlungen zeigen, dass auch „moralischer Schwachsinn“ verfolgt wurde. Wertungen wie „arbeitsscheu, störrisch oder unmoralisch“ sind hinreichende Kriterien für eine Sterilisation.
Die restlose Beobachtung des Lebens
Neben der „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurden auch die Anträge für Ehestandsdarlehen nach dem „Gesetz über die Förderung der Eheschließungen“ geprüft. Die ständige Ausweitung der Befugnisse verdeutlicht ein Schreiben des Gesundheitsamtes Lingen vom 14.06.1936:
„Brautpaare, bei denen standesamtlich ein Ehetauglichkeitszeugnis gefordert wird, Anwärter auf ein Ehestandsdarlehen, Personen, die eine Einbürgerung beantragt haben, sämtliche Familien, die einen Antrag auf eine Kinderreichenbeihilfe gestellt haben, soweit möglich Schüler, Personen bei denen der Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt wurde, Siedler usw.“ .
Diese Personen erhielten zunächst einen Fragebogen zur Beurteilung der ‚Erbgesundheit‘ und mussten die Angaben für die Aufstellung der ‚Sippentafel‘ zu machen. Sie wurden dann eingehend untersucht, bevor ihnen das erforderliche Zeugnis ausgestellt.
Weiterhin erstellten die Gesundheitsämter Jahresgesundheitsberichte, die verschiedene Erkenntnisse aus vielfältigen Überwachungsaktivitäten zusammenfassten: hierzu gehörten Berichte von FürsorgerInnen, Akten aus Krankenhäusern und von Pflegeanstalten über Geschlechtskrankheiten und Alkoholfürsorge, wie auch Justizurteile und Ermittlungsakten bis hin zu Informationen von Hebammen. Sämtliche Lebensbereiche waren abgedeckt und erlaubten eine Erweiterung des Zugriffs, z. B. über die Schulen: LehrerInnen erstellten SchülerInnenbeurteilungen und Schulchroniken. Wer immer eine Gratifikation des NS-Staates in Anspruch nehmen wollte, musste über das Gesundheitsamt seine rassische Wertigkeit nachweisen.
Am 18. 07.1940, als viele der erfaßten Erbkranken bereits ermordet oder totgeweiht waren, erließ das Reichsinnenministerium mit den „Richtlinien für die Beurteilung der Erbgesundheit“ die gesundheitliche und soziale Einteilung der Reichsbevölkerung in vier Kategorien: „1. asoziale Personen, 2. tragbare Personen, 3. die Gruppe der Durchschnittsbevölkerung, 4. erbbiologisch besonders hochwertige Personen.“ Im Ministerialblatt hieß es zu der Personenkategorie der ‚Asozialen‘: „Asoziale sind vom Bezug jeder Zuwendung ausgeschlossen“; den „noch als tragbar anzusehenden Familien […] wird man z. B. Laufende Kinderhilfen nicht entziehen können, förderne Maßnahmen sind ihnen allerdings nicht zuzuwenden“; erst den „Durchschnittlichen“ sind „alle ehrenden und fördernden Maßnahmen wie Ehestandsdarlehen, Ausbildungsbeihilfen, Ehrenkreuz der Deutschen Mutter zuzubilligen“; die „Hochstehenden“ seien nur dann besonders zu bevorzugen, „wenn aus einer großen Zahl von Bewerbern nur wenige ausgewählt werden sollen.“
Die Beobachtung und Begutachtung der Bevölkerung erfolgte etwa in Hamburg ab 1934, ohne ihr Wissen, beim Arztbesuch. Die von den MedizinerInnen ausgefüllten Formulare wurden an die Gesundheitsbehörde weitergeleitet und dort zu einem „Zentralen Gesundheitspaßarchiv“ (GPA) zusammengefasst. Nach einem Jahr waren dort 200.000 HamburgerInnen registriert. Bis 1938 mussten noch bearbeitet werden: 3000 Akten über Homosexuelle, die seit 1935 von der Kriminalpolizei an das GPA abgegeben worden waren; 20.000 Akten aus der Tuberkolosefürsorge; 20.000 Akten über ‚Krüppel‘; 40.000 Fürsorgeakten der Sozialverwaltung; 250.000 erfaßte VerbrecherInnen bei der Kriminalbiologischen Sammelstelle; sowie 400.000 vertrauensärtzliche Gutachten der AOK.
Das Osnabrücker Gesundheitsamt mit seinen vielfältigen Aufgaben befindet sich mittlerweile als „Haus der Gesundheit“ in der Hakenstraße 6. Seine Geschichte ist bisher einer größeren Öffentlichkeit nicht bekannt. Die sozialdisziplinarische Kontrolle staatlicher und kommunaler Behörden ist in einem Sozialsystem angelegt, das ebenfalls auf Gesetzesgrundlagen basiert und gleichzeitig weite Ermessensspielräume einzelner EntscheiderInnen erlaubt. Die statistischen Möglichkeiten durch die Volkszählungen und der weniger umfassend scheinende Mikrozensus wie auch die Algorithmisierung der Gesellschaft sind immens. Die Kapitalisierung des Gesundheitssystems schreitet mit der gleichzeitigen Verknappung der Ressourcen voran.
Literatur:
Aly, Götz; Roth, Karl Heinz: Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch, überarbeitete Neuausgabe 2000, zuerst Berlin, 1984.
Ayaß, Wolfgang: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart: Klett, 1995.
Berger, Eva: Als das Volk geführt wurde. Gesundheitspolitik unter’m Hakenkreuz in Osnabrück. In: Topographien des Terrors. (Hg.) T. Heese. Bramsche: Rasch, 2. korrigierte Aufl. 2015, S. 247–261.
Böhne, Lisa: „Zwangssterilisation“. Osnabrück: Antifa-Archiv, 2003.
Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt: Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988.